Aus dem Jahr 2022
Selbsthilfegruppen nicht mehr angesagt?
Jüngere suchen nur selten das Gespräch mit anderen Betroffenen
Hameln. Jung, dynamisch und beruflich erfolgreich. Und was ist, wenn es mal nicht so klappt mit der Gesundheit? Wo bleibt bei all den frei zugänglichen digitalen Enzyklopädien im Netz und den Social-Media-Nutzern noch Platz für die Selbsthilfegruppe (SHG) um die Ecke? Die Gruppen sind eine gute Sache – nach wie vor, betonen ihre Verfechter, schließlich seien diese auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt als ein Arzt-Patienten-Verhältnis, nämlich dem der „Gleichbetroffenheit“. Natürlich kann der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe die professionelle Hilfe nicht ersetzen, sie kann jedoch eine Ergänzung bilden. Aber: Die Zahl jüngerer Mitglieder geht zurück.
Regina Heller, Leiterin der Kontaktstelle für Selbsthilfe des Paritätischen Hameln-Pyrmont, kann das nur bestätigen. Nun könnte es bei den SHG natürlich auch ein positiver Trend sein. Weniger Mitglieder gleich weniger Betroffene. Doch dem ist offenbar nicht so. Regina Heller spricht von einem auffälligen Wandel. Derzeit gebe es über 130 SHG, die unter der Schirmherrschaft des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ständen. In den 1980er Jahren waren es vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen, die sich in neuen SHG zusammenfanden. Heute nimmt die Zahl der Gruppen, die im Bereich der psychosozialen Problemlagen angesiedelt sind, zu. Wer heute 40 Jahre alt ist, gehört zu den jungen Teilnehmern von Selbsthilfegruppen. Aber warum ist das so?
Eine Antwort darauf haben vier unterschiedliche Menschen, die sich in Gruppen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Hameln-Pyrmont engagieren, versucht zu ergründen. Erika Busse ist mittlerweile 70 Jahre alt, längst geheilt, aber immer noch seit über 20 Jahren in der SHG „Hilfe bei Krebs“ aktiv. Sie ist dabei geblieben, um anderen Menschen beizustehen. „In unserer Hauptgruppe sind die Menschen zwischen 60 und 84 Jahren“, sagt Busse. Der Trend mit der Altersstruktur trifft hier wohl zu. Aber nicht ganz, denn da ist auch Katharina Firley. Die junge Frau ist erst knapp über 30 Jahre alt. Mit ihrem Piercing und der schwarzen Kleidung scheint sie so gar nicht ins Bild einer typischen Selbsthilfegruppe zu passen. Aber eine typische Gruppe – gibt es die überhaupt? „Nein“, widerspricht Regina Heller vehement. „SHG sind immer so aktuell, wie die Menschen, die sie brauchen. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft.“ Die Menschen zwischen 20 und 50 Jahren suchen also offenbar das persönliche Gespräch in der Gruppe zur Zeit weniger als vor 30 Jahren. Katharina Firely ist glücklich in der Selbsthilfegruppe: „Ein bisschen Mut hat auch schon dazugehört“, sagt die junge Frau. „Menschen in meiner Altersgruppe mit der gleichen Erkrankung habe ich nicht gefunden – in der Selbsthilfegruppe des Paritätischen bin ich aber fündig geworden.“ Dass sie die Jüngste in der Gruppe ist, stört sie nicht. „Der Altersunterschied spielt hier überhaupt keine Rolle“, unterstreicht Firley. „Endlich habe ich Menschen gefunden, die die gleichen Ängste haben wie ich, die mir zuhören und bei denen ich mich nicht verstellen muss, hier kann ich sein, wie ich mich gerade fühle. Hier steht nicht das Alter, sondern die Krebserkrankung im Vordergrund.“
Henning Müßigbrodt stimmt da voll und ganz zu. Er bedient jene Schublade, sich in einer SHG zu einer chronischen Erkrankung zu engagieren. Heute ist Müßigbrodt Mitte 70 und wie Erika Busse schon seit Jahrzehnten in seiner Gruppe aktiv. „Wir Alten geben den Jungen Mut, dass man auch mit Morbus Bechterew – einer chronischen Gelenkerkrankung, die zur völligen Versteifung führen kann – noch fit sein kann“, sagt der Senior.
Die junge Mutter Johanna Kopczynski könnte nun beispielhaft für jene neue Generation sein, die das Modell Selbsthilfegruppe wiederbelebt. Sie gründete am Freitag unter dem Dach des Paritätischen eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Essstörungen. Weitere Informationen zu dieser Gruppe gibt es bei der Kontaktstelle für Selbsthilfe unter 05151/ 576113.
von Birgit Sterner