PMS 18/19 v. 08.05.2019
„70 Jahre können dem Grundgesetz nichts anhaben“, sagt Birgit Eckhardt, Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Niedersachsen e.V., zum runden Geburtstag der deutschen Verfassung. „Im Gegenteil: Teile des Textes, etwa Artikel 1, sind aktuell wie eh und je.“ Oberstes Ziel aller Politikerinnen und Politiker in Deutschland muss es sein, den hier lebenden Menschen ein Leben in Würde und voller gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. „Wir sind aber leider noch weit davon entfernt, dass wirklich alle Menschen ein solches Leben genießen dürfen.“
So steigt die Zahl der Wohnungslosen stetig an. Rund 500.000 Menschen haben keine eigene Wohnung – davon leben mehr als 50.000 Menschen in Deutschland ohne Dach über dem Kopf auf der Straße. Dazu kommen noch einmal Hunderttausende Flüchtlinge, die geduldet in Gemeinschaftsunterkünften leben. „In einem reichen Land wie Deutschland spotten solche Zahlen jeder Beschreibung“, sagt Birgit Eckhardt. „Und hinter jeder dieser Zahlen steht ein menschliches Schicksal, steht ein Mensch, dem von seiner Würde nicht mehr viel geblieben ist.“
Auch viele Alleinerziehende und immer mehr Familien aus dem Mittelstand suchen verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum – auch da bleibt die Würde oft auf der Strecke. Geflüchtete Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt ohnehin benachteiligt sind, müssen in den nächsten Jahren mit deutlich weniger Unterstützung bei der Integration rechnen: Der Bundesfinanzminister hat angekündigt, die Bundeszuschüsse für Unterbringung, Versorgung und Integration deutlich zu kürzen – von 4,7 Milliarden Euro in diesem Jahr auf nur noch 1,6 Milliarden im Jahre 2021. „Ja, es kommen immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland“, sagt Birgit Eckhardt. „Aber es ist ein Irrglaube, dass deshalb weniger Unterstützungsbedarf besteht. Die Menschen, die schon hier sind, brauchen ja ebenfalls noch Unterstützung, damit sie hier in Deutschland Fuß fassen können. Das gilt für alle Themen, wie Spracherwerb, Wohnraum, berufliche Integration etc. Diese geplanten Kürzungen sind ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich um gute Integration bemühen, Flüchtlinge wie engagierte Haupt- und Ehrenamtliche.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieser erste Artikel des Grundgesetzes scheint immer noch nicht für alle Menschen in Deutschland zu gelten. „Dabei zeigt sich der Wert von Politik, der Wert einer Gesellschaft darin, wie eine Gesellschaft all die Menschen behandelt, die in irgendeiner Form Hilfe und Unterstützung benötigen“, sagt Birgit Eckhardt. „Ob das arme Kinder sind, die ohne Frühstück in die Schule kommen. Menschen mit Behinderung, die keine Arbeit finden und im Alltag immer noch ausgegrenzt werden. Alte Menschen, die im Minutentakt gepflegt werden müssen– und die Pflegekräfte, die zu Niedriglöhnen und unter Zeitdruck eine so wichtige Aufgabe erledigen, weil nach wie vor zu wenig Geld für menschenwürdige Pflege bereitgestellt wird.“
Das Erstarken rechtsextremer Parteien zeigt, wie stark sich Politik für die Grundwerte unserer Verfassung einsetzen muss, um sie noch stärker im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern. „Das Grundgesetz zwingt uns dazu, innezuhalten und in unserem Alltag, der zu oft von ökonomischen Zwängen geprägt ist, das Wohl und die Rechte des einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen“, sagt Birgit Eckhardt. „Dieser Gesetzestext ist die oberste Richtschnur für die deutsche Politik. Das sollte bei allen Abgeordneten im Landtag und im Bundestag wiederstärker in den Fokus rücken.“
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird in diesen Tagen 70 Jahre alt. Am 8. Mai 1949, dem Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkriegs, nahm der Parlamentarische Rat den Entwurf an. In den Wochen danach stimmten die US-amerikanischen, französischen und britischen Militärgouverneure zu und danach die Landtage der Bundesländer. Mit Wirkung zum 24. Mai trat das Grundgesetz in Kraft – die Bundesrepublik Deutschland war gegründet.
Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V. feiert in diesem Jahr sein 70-jähriges Bestehen: Seit der Neugründung im Jahr 1949 setzt sich der Paritätische gemeinsam mit seinen Mitgliedsorganisationen für all die Menschen in Niedersachsen ein, die Hilfe und Unterstützung in verschiedenen Lebenslagen benötigen.